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Was Hans isst, isst auch Hänschen

Wie man Kinder und Jugendliche dazu bringt, sich gesund zu ernähren

Regula Sandi, Bulletin SZPI

Wie lassen sich Kinder für eine ausgewogene Ernährung begeistern? Was hat sich in Sachen Essgewohnheiten über die Zeit verändert? Ernährungsberaterin Marianne Honegger gibt im Interview Einblick in aktuelle Ernährungstrends und erklärt, weshalb Kinder beim Essen gute Vorbilder brauchen.

Marianne Honegger, welche aktuelle Entwicklung beobachten Sie in Ihrer Praxis als Ernährungsberaterin in den Familien punkto Essverhalten?

Marianne Honegger: Wir stellen fest, dass sich im Zusammenhang mit der Coronapandemie die Übergewichtsproblematik bei Kindern akzentuiert hat. Fehlende Bewegung und die ständige Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln ist für viele Kinder während des Lockdowns zur Herausforderung geworden – insbesondere für Kinder und Jugendliche, die bereits vor der Pan-demie mit Übergewicht zu kämpfen hatten. Zwar sind die coronabedingten Einschränkungen unterdessen aufgehoben. Die Rückkehr in den Alltag, wie er vor der Pandemie war, benötigt jedoch Zeit. Wir beobachten, dass es für viele Kinder und Jugendliche schwierig ist, regelmässige Aktivitäten wie zum Beispiel den Besuch des Sportkurses, welcher vor der Pandemie selbstverständlich war, wieder aufzunehmen.

In den letzten Jahren sind die Essgewohnheiten ausserdem diverser geworden. Das Nahrungsmittelangebot, aber auch Einflüsse aus verschiedenen Esskulturen und Informationen zu verschiedenen Ernährungsweisen haben zugenommen. Essen ist heute auch vielfach Ausdruck eines bestimmten Lebensstils. Wenn sich der Vater vegan ernährt und die Mutter nicht, bedingt dies mehr Abstimmungsaufwand innerhalb der Familie und kann zu Verunsicherung darüber führen, was nun die «richtige» Ernährung ist. Viele Eltern melden sich für die Ernährungsberatung an, weil sie sicher gehen möchten, dass sie bei der Ernährung ihres Kindes nichts falsch machen.

Welche Rolle spielt die Familie bei der kindlichen Entwicklung der Ernährungsgewohnheiten?

Die Rolle der Familie ist zentral. Natürlich nehmen immer mehr Kinder das Mittagessen unter der Woche in der Schule oder in der Kindertagesstätte ein, was auch einen Einfluss hat. Aber die Familie und das, was die Eltern ihren Kindern vorleben, ist nach wie vor am prägendsten für die Entwicklung der Essgewohnheiten. Ernährung und Erziehung sind eng miteinander verknüpft.

Worauf sollten Eltern achten, damit ihr Kind lernt, sich ausgewogen zu ernähren?

Das Wichtigste ist, eine ausgewogene Ernährung ganz selbstverständlich zu leben. Was die Eltern tun, ist entscheidender, als was sie sagen. Dies bedingt, dass die Eltern sich selbst bewusst machen, wie und was sie essen. Zudem wird ein Kind, das von klein auf viele unterschiedliche Lebensmittel kennengelernt hat, vielfältigere Geschmacksvorlieben haben. Deshalb sollten Eltern eine breite Geschmackspalette anbieten. Gemeinsam kochen ist eine gute Möglichkeit, Neues kennenzulernen und die kindliche Neugierde zu wecken sowie Achtsamkeit und Wertschätzung im Umgang mit Essen zu vermitteln. Ebenso wichtig ist es, mit Freude zu essen und das Essen zu geniessen. Eine entspannte Grundhaltung trägt viel dazu bei, dass Kinder essen als etwas Positives und Genussreiches erleben. Eltern sollten möglichst wenig korrektiv eingreifen und nicht ständig darüber sprechen, was gesund ist und was nicht. Auch Verbote sind kontraproduktiv. Essen sollte nicht mit einem schlechten Gewissen verbunden sein.

Was gilt beim Zuckerkonsum?

Grundsätzlich ist es wichtig, den Zuckerkonsum möglichst tief zu halten. Unbedenklich ist Zucker, der von Natur aus in Früchten, Gemüse und Milch enthalten ist. Diese Nahrungsmittel liefern gleichzeitig wertvolle Nährstoffe und machen auch satt. Sehr zurückhaltend sollte man bei jeglichen Lebensmitteln sein, denen Zucker zugesetzt wird. Es ist nicht problematisch, wenn das Kind ab und zu etwas Süsses oder ein Dessert isst. Eltern sollten aber bewusst die Menge im Auge behalten und den Alltag grundsätzlich zuckerfrei gestalten. Dies bedeutet, zum Beispiel zu Hause keine Süssgetränke oder Süssigkeiten auf Vorrat zu haben, zu denen das Kind ständig Zugang hat. Rigide Vorschriften sollten jedoch vermieden werden. Sie sind für das Kind belastend und können auf lange Sicht negativere Konsequenzen nach sich ziehen als ein massvoller Zuckerkonsum. Eltern, die zu Hause selbst ein strenges Ernährungsregime erlebt haben, sind als Erwachsene oft verunsichert und müssen wieder einen normalen Umgang mit dem Essen lernen.

Was ist entscheidender: Wie häufig ein Kind isst oder was es isst?

Die Auswahl des Essens ist entscheidender als die Häufigkeit. Wieviele Mahlzeiten ein Mensch braucht, ist individuell. Es gibt Kinder oder Erwachsene, die Zwischenmahlzeiten benötigen und andere, die problemlos darauf verzichten können. Entscheidender sind aus meiner Sicht regelmässige Hauptmahlzeiten. Das heisst, ein Kind sollte zu festgelegten Zeiten und nicht ständig essen. Ob es letzten Endes aber drei oder fünf Mahlzeiten sind am Tag, spielt eine kleinere Rolle. Dasselbe gilt auch für das Frühstück. Natürlich ist es optimal, wenn Kinder frühstücken. Aber es gibt Kinder, die kein Frühstück mögen. Dann ist es auch in Ordnung, wenn es dafür ein Znüni gibt. Wichtig ist, dass die Eltern die Mahlzeiten strukturieren. Sie bestimmen, was und wann gegessen wird.

Was ist von einer vegetarischen oder veganen Ernährung für Kinder zu halten?

Wegen der Gefahr von Mangelerscheinungen und gesundheitlichen Folgeschäden wird die vegane Ernährungsweise für Kinder kritisch gesehen. Die Akzeptanz und Offenheit gegenüber verschiedenen Ernährungsformen ist heute jedoch grösser als früher. Ich empfinde es nicht als zielführend, bestimmte Ernährungsformen komplett abzulehnen. In der Ernährungsberatung ist es vielmehr unsere Aufgabe, die Eltern umfassend zu informieren, auf was zu achten ist, und über mögliche Risiken aufzuklären. Wollen Eltern ihr Kind vegan ernähren, sind eine enge Begleitung durch eine qualifizierte Fachperson sowie regelmässige Kontrollen beim Kinderarzt wichtig. Die Ernährung muss mit Vitamin B12 und allenfalls weiteren Nährstoffen ergänzt werden. Eine vegetarische Ernährung (ohne Fleisch/Fisch, jedoch mit Milch, Milchprodukten und Eiern) ist für Kinder gut möglich, wenn die Zusammenstellung der Nahrungsmittel ausgewogen und abwechslungsreich ist und das Kind mit allen notwendigen Nährstoffen versorgt wird.

Wie hat sich der Stellenwert der Ernährung im Alltag verändert?

Wie und was wir essen, ist heute mehr zur Kopfsache geworden. Dem Essen kommt eine viel grössere Bedeutung zu als früher und wir sind einer Flut von Informationen und Empfehlungen ausgesetzt. Gleichzeitig ist das Nahrungsmittelangebot so gross wie nie zuvor. Sich ausgewogen und gesund zu ernähren, erfordert, diese Informationen einordnen zu können und eine Vielzahl von Entscheidungen zu treffen. Das macht die Nahrungsmittelbeschaffung und -zubereitung insgesamt komplexer als früher.

Ernährung ist über die unmittelbar sinnliche Wahrnehmung hinaus auch mit Werthaltungen verknüpft. Die Konsumenten möchten wissen, ob ihr Produkt umweltfreundlich hergestellt wurde oder ob das gekaufte Fleisch aus tierfreundlicher Haltung stammt. Grundsätzlich ist dies eine gute Entwicklung. Man sollte aber nicht vergessen, auch auf die Ausgewogenheit eines Lebensmittels zu achten. Ein Label für ein nachhaltig hergestelltes Produkt bietet beispielsweise keine Garantie, dass dieses nicht zu viel Fett oder Zucker enthält. Ernährung ist auch Projektionsfläche für Wünsche und eine bestimmte Lebenseinstellung geworden. Die Nahrungsmittelindustrie macht sich diese Tendenz zu Nutze und setzt auf emo- tionalisierte Werbebotschaften, indem sie zum Beispiel mit dem Verzehr bestimmter Nahrungsmittel Gesundheit, Schönheit, Fitness oder Leistungsfähigkeit assoziiert. Gerade Kinder und Jugendliche sind diesem Narrativ in den Sozialen Medien stark ausgesetzt. Online-Idole posten Bilder von Esswaren und gleichzeitig wird vielfach ein Körperbild vermittelt, welches nicht der Realität entspricht.

Wie beeinflusst dies die Jugendlichen?

Kinder und Jugendliche beginnen schon in jüngeren Jahren als früher, sich bewusst mit den Themen Essen und Gewicht auseinanderzusetzen. Wir stellen fest, dass sich auch Essverhaltensstörungen bereits im Alter von 10 oder 11 Jahren zeigen. Früher waren vor allem Jugendliche in der Pubertät davon betroffen. Kinder und Jugendliche werden heute auf sehr vielen Kanälen mit Inhalten konfrontiert, die ein bestimmtes Körperbild oder einen bestimmten Lifestyle transportieren. Dies ist immer auch mit der Ernährung verknüpft. Eine kritische Auseinandersetzung mit den Medieninhalten sowie dem eigenen Medienhandeln und demjenigen anderer ist deshalb so wichtig wie nie zuvor.

Welche Rolle spielt die Schule in diesem Kontext?

Die Schule hat meiner Meinung nach eine ganz wichtige Funktion. Die im Unterricht vermittelten Zusammenhänge stellen einerseits ein verlässliches und wissenschaftlich fundiertes Gegengewicht zu den im Internet und in den Sozialen Medien kursierenden Informationen dar. Zudem können Lehrpersonendurch Medienerziehung helfen, Inhalte einzuordnen und kommerzielle Interessen von Nahrungsmittelproduzenten aufzudecken. Die Kinder tragen das Gelernte nach Hause und es werden im Unterricht auch Informationsmaterialien abgegeben, die sich direkt an die Eltern richten. Die Schule schlägt so eine Brücke zu den Familien. Andererseits lernen Kinder durch das gemeinsame Essen in der Schule auch andere Nahrungsmittel kennen, als sie vom Familientisch gewohnt sind.


Marianne Honegger ist Ernährungsberaterin (BSc) und freiberuflich in einer Praxis für Kinder- und Jugendmedizin tätig. Sie arbeitet seit Jahren mit der Stiftung für Schulzahnpflege-Instruktorinnen zusammen in der Aus- und Weiterbildung von SZPI und ist Autorin des Kapitels «Ernährung» in der Neuauflage des Lehrmittels «mundgesund» der Stiftung.